„Lebensunwert“ – Der Weg des Paul Brune

Paul Brune wurde im Jahr 1935 außerehelich in einem kleinen Dorf im Sauerland geboren. Seit seiner Geburt sahen die Dorfbewohner lediglich einen „Bastard“ in ihm – ein uneheliches Kind eines reichen Bauern. Der betrogene Ehemann kann den Fehltritt von Paul Brune`s Mutter nicht verzeihen und misshandelt diese schwer. Als die Mutter dieses Leiden nicht mehr ertrug, versuchte sie sich selbst und ihre Kinder umzubringen. Dabei ertrank ein Sohn, die anderen Kinder überlebten die grausame Tat. Ab diesem Zeitpunkt begann für Paul Brune der schreckliche Albtraum. Aufgrund des Selbstmordversuches wurde seine Mutter zwangssterilisiert und für geisteskrank erklärt. Daraufhin kam der erst einjährige Paul Brune in ein Waisenheim nach Lippstadt. Später wurde er nach Dortmund und Marsberg verlegt – welches damals von der Bevölkerung im Volksmund „Idiotenanstalt“ genannt wurde.

Im Alter von 8 Jahren wurde Paul Brune in der sogenannten „Kinderfachabteilung“ von Dr. Heinrich Stolze eine „ererbte Geisteskrankheit“ diagnostiziert. Damals war dies kein Einzelfall – viele Menschen fielen in dieser Zeit dem nationalistischen Psychiatrieverbrechen zum Opfer. Das alles geschah unter dem Deckmantel der „Vernichtung unwerten Lebens“ und der „Rassehygiene“. So wurden hunderttausende Heimkinder, Zwangssterilisierte und Psychiatrisierte von den Nazis als lebensunwert stigmatisiert. Psychiater und Amtsärzte bescheinigten Gutachten, die zu Massenmorden von lebensunwertem Leben führten.

Dabei war neben körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen auch sogenanntes asoziales Verhalten eine unerwünschte Kategorie. Zu letzterem zählten Prostituierte, Obdachlose, Alkoholiker und Arbeitslose. Weiters wurden auch unangepasste Kinder und Jugendliche als asozial und somit lebensunwert eingestuft.

Diagnose „Lebensunwert“

Diese ärztliche Diagnose bedeutete in der Regel der sichere Tod. Paul Brune wurde in eine der Tötungsstationen der Kindereuthanasie eingewiesen. Doch er entkam seinem vermeintlichen Schicksal! Dank seiner ausgezeichneten schulischen Noten überstand Paul Brune diesem Todesurteil. Mit Glück überlebte er die Massenmorde – doch zu einem hohen Preis. Er hatte schwere Jahre vor sich, denn wie unzählige andere Kinder wurde auch er von sadistischen Ärzten und regimetreuen Nonnen gequält. Im Leben von Paul Brune herrschte nur Hunger, Missbrauch, Gewalt und Tod. Nur wenige überlebten diesen Krieg.

Seine „Idiotenakte“ verfolgte Paul Brune sein ganzes Leben. Diese Stigmatisierung – lebensunwert – wurde er nie wieder los. So musste er als angeblicher Psychopath auch nach Kriegsende in der Psychiatrie bleiben und miterleben, wie die Patienten weiterhin misshandelt wurden. Obwohl die Herrschaft der Nazis vorüber war, hatte das Leid kein Ende. Denn die Vorurteile blieben und Paul Brune wurde ohne menschliche Zuneigung in Heimen festgehalten und als Knecht als billige Arbeitskraft ausgebeutet. Erst im Jahr 1957 wurde seine Entmündigung vom Gericht aufgehoben.

Die Folgen der NS-Psychiatrie

Der Weg zu einem freien Menschen war für Paul Brune kein leichter. Letztendlich hat er es dennoch aus eigener Kraft geschafft, seine Entmündigung aufzuheben. Nur seiner enormen Willenskraft verdankte er es, mit 36 Jahren sein Abitur nachzuholen und sein Studium in Philosophie, Germanistik und Sozialwissenschaften abzuschließen. Dennoch war es ihm nicht möglich, einen Beruf als Lehrer auszuüben. Denn immer wieder tauchte die Irrenhausakte aus der NS-Zeit wieder auf. Der Amtsarzt Dr. Johannes John versuchte Paul Brunes gesamtes Studium abzuerkennen. Dies begründete er mit seiner vorhandenen „Krankenakte“. Die Vorurteile und das Stigma sind geblieben, der Schuldienst blieb für Paul Brune sein Leben lang verwehrt. Erst nach 5 Petitionen im nordrhein-westfälischen Landtag wurde Paul Brune im Jahr 2003 als Verfolgter des Nazi-Regimes und Euthanasie-Opfer anerkannt. Dies ist kaum einem Überlebenden gelungen. Seither erhielt er immerhin eine kleine Rente von € 260,-.

Diese unmenschlichen Verbrechen des Dritten Reiches gehören weiterhin zu den kaum beachteten Kapiteln der deutschen Zeitgeschichte. Es begann 1934 mit grausamen Zwangssterilisationen und mündete im für über 200.000 Menschen in Ermordungen in der damals gebräuchlichen Euthanasie. Das alles stand im Zeichen der Vernichtung unwerten Lebens und Rassehygiene. Noch immer zählen die Opfer dieser Verbrechen zu den beinahe vergessenen Opfergruppen. Bis heute sind sie selbst sowie die Angehörigen häufig stigmatisiert und traumatisiert.

Paul Brune – engagierter Psychiatrie-Erfahrener

Am 16. März 2015 ist mit Paul Brune im Alter von 79 Jahren einer der letzten überlebenden Zeitzeugen der Psychiatrie zu NS-Zeit verstorben. Paul Brune hat Jahrzehntelang um eine Entschädigung als Verfolgter des NS Regimes sowie um seine Rehabilitation gekämpft. Dabei trat er immer wieder als Zeitzeuge auf Veranstaltungen auf. Brune galt als kämpferischer, engagierter und dennoch nachdenklicher Mensch. Dabei mischte er sich selten öffentlich in fachliche Debatten bezüglich der psychiatrischen Versorgung der heutigen Zeit ein. Stattdessen blieb er seinen Überzeugungen beharrlich als autobiografischer Berichterstatter mit entschiedener politischer und persönlicher Urteilskraft treu.