In ihrem Dokumentarfilm „Paris, Sommer 44“ rekonstruieren Michael Busse und Maria-Rosa Bobbi die letzten 16 Tage der deutschen Besatzung in Paris. Doch die Versionen vom Verlauf der Geschehnisse und die Motivationen der Beteiligten sind so zahlreich wie die Zeugen. Eines haben sie dennoch alle gemeinsam: den Hauptakteur dieser Geschichte – General Dietrich von Choltitz.
Choltitz wird am 9. November 1894 in der Nähe von Prudnik, dem damaligen Oberschlesien, im Familienschloss Wiese Gräflich geboren. Sein Vater Hans von Choltitz ist Major in der Preußischen Armee.
1907 besucht er in Dresden das Kadettenkorps und tritt 1914 als Fähnrich in das 8. Infanterie-Regiment „Prinz Johann Georg“ Nr. 107 der Sächsischen Armee in Leipzig ein. Zuerst wird er Leutnant, dann Kompanieführer, danach setzt man ihn als Adjutant des Ersatz-Bataillons seines Stammregiments ein. Schließlich arbeitet er sich bis 1935 zum Major hoch und wird 1938 zum Oberstleutnant befördert.
Im Krieg gegen die Sowjetunion ist er als Oberst maßgeblich an der Eroberung der stärksten Land- und Seefestung der Welt, Sewastopol, 1942 beteiligt und wird dafür mit dem höchsten Orden ausgezeichnet. Fortan gilt er als Experte der „verbrannten Erde“ in Russland – ein Ruf, der ihm auch in seiner späteren Karriere schnell vorauseilt.
Weil er bisher jeden Befehl gnadenlos ausgeführt hat und eine militärische Glanzkarriere vorweisen kann, befindet Hitler den 50 Jahre alten Choltitz als den geeignetsten Mann, um ihn am 1. August 1944 zum General der Infanterie zu befördern und zum kommandierenden General und Wehrmachtsbefehlshaber der „Festung Groß-Paris“ zu ernennen. Choltitz löst damit seinen Vorgänger Hans von Boineburg-Lengsfeld, der nach dem Scheitern des Hitler-Attentats abberufen wird, ab. Mit diesem höchsten militärischen Dienstgrad verfügt er nun über die umfassendsten (ebenso gerichtsherrlichen) Vollmachten, die er – wie es sich im Nachhinein herausstellt – nicht einmal im Ansatz nutzt.
Am 7. August 1944 erhält Choltitz im Führerquartier Befehle von Hitler und den Satz mit auf den Weg, Paris dem Erdboden gleichzumachen: „Sie verteidigen Paris bis zum letzten Ihrer Männer, selbst wenn dies dazu führt, dass Sie ein Trümmerfeld hinterlassen“. Der genaue Auftrag beinhaltet:
Am 9. August 1944 trifft Choltitz in Paris ein und mobilisiert vorerst circa 20.000 Soldaten, rund 50 Panzer und etwa die gleiche Anzahl an Flugzeugen. Brücken, Wasserwerke, die Gas- und Elektrizitätszentrale sowie die Telefonvermittlungsstellen und etliche Monumente – darunter auch den Senat, den Eiffelturm und das Abgeordnetenhaus – lässt er von zwei Pionier-Kompanien vermienen.
Noch präsentiert sich Choltitz gegenüber dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW), den Behörden, der Widerstandsbewegung Résistance und dem Oberbürgermeister von Paris Pierre Taittinger als der Mann, der sich nicht scheut die Weltmetropole Paris auf die gleiche Weise zu zerstören wie eine beliebige Stadt in der Ukraine. Letzterer eilt wegen der deutschen Verteidigungsvorbereitungen zur Stadtkommandantur und bittet Choltitz eindringlich, die Stadt zu verschonen:
Die Militärs haben oft die Macht zu zerstören, aber nur selten die Macht, etwas zu errichten. Stellen Sie sich vor, Herr General, Sie kommen eines Tages hierher als Tourist zurück und Sie sehen diese Zeugen unserer Geschichte und können sagen: Ich hätte dies zerstören können und habe es erhalten, als Geschenk an die Menschheit. General, wiegt das nicht den Ruhm jedes Eroberers auf? ~ Pierre Taittinger
Die Atmosphäre in Paris ist höchst angespannt. Die kommunistischen Résistance-Kämpfer sind bestrebt die Deutschen mit eigener Kraft aus Paris zu vertreiben. Charles de Gaulle hingegen, der sich nach der Landung der Alliierten in der Normandie zum Chef der „Provisorischen Regierung“ ausgerufen hat, bemüht sich von seinem Hauptquartier im nordafrikanischen Algier aus, genau einen solchen Aufstand der Bevölkerung zu verhindern. Er fleht Eisenhower, den Oberkommandierenden der Alliierten, an, in Paris einzumarschieren und die Stadt zu erobern. Doch dieser will nichts davon wissen.
Zwischenzeitlich können die deutschen Armeen an keiner Front mehr Widerstand leisten. Die Bombardierungen der Alliierten lassen eine deutsche Großstadt nach der anderen in Schutt und Asche versinken. Damit erreicht Hitler seinen höchsten Wahnsinnsgrad und spricht hasserfüllt mit Schaum vor den Lippen vom „Baumeln der Generale“.
In den folgenden 16 Tagen widersetzt sich Choltitz wiederholt Hitlers Wut- und Rachebefehlen bis hin zum Trümmerfeldbefehl „Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen“. Stattdessen beteiligt er sich an den Verhandlungen mit dem damaligen schwedischen Generalkonsul in Paris, Raoul Nordling, dem bereits genannten Oberbürgermeister Pierre Taittinger sowie Alexandre Parodi, dem politischen Führer der gaullistischen Widerstandbewegung in Frankreich.
Wohl durch diese Mischung aus aktivem Kontakt mit der Résistance wie auch der Zurschaustellung von Stärke in Form von Militärparaden und Drohungen verhindert Choltitz einen Aufstand der Bevölkerung. Dank der Vermittlung des schwedischen Generalkonsuls Raoul Nordling zwischen der Widerstandsbewegung und Choltitz können die von Hitler befohlenen Sprengungen verhindert werden.
Dennoch lässt Choltitz sein Hauptquartier bis zuletzt verteidigen, wohl aus Angst, um weder der Résistance noch dem Mob in die Hände zu fallen. Erst nach seiner Gefangennahme unterzeichnet er die Kapitulationsurkunde im Bahnhof Montparnasse und übergibt am 25. August 1944 die Stadt unbeschädigt an Generalmajor Leclerc als Repräsentanten der französischen Streitkräfte.
Fünf Stunden später feiern zwei Millionen Menschen den „le jour del gloire“ – den „Tag des Ruhmes“ – auf den Champs Elysées. Die Besetzung ist nach vier Jahren endlich zu Ende. Schon am Vorabend hat Schriftsteller Albert Camus eine Vision und schreibt: „Das Paris, das heute kämpft, will morgen befehlen. Nicht um der Macht willen, sondern für die Gerechtigkeit; nicht für die Politik, sondern für die Moral“.
Bis heute ist nicht bekannt, warum der sonst so loyale Choltitz die Hitler-Befehle verweigert hat. Es gibt dazu viele Theorien. Eine besagt, Choltitz verfügte nicht über die entsprechenden militärischen Ressourcen, um den Zerstörungsbefehl ausführen zu können, was wiederum sein Sohn, Timo von Choltitz vehement verneint:
Mein Vater verfügte in Paris verbrieft über mehr als 300 Torpedos aus einem U-Boot-Lager. Allein dieses Zerstörungspotential hätte ausgereicht, [um] sämtliche Versorgungseinrichtungen wie Wasserkraftwerke, Gaswerke, Elektrizitätswerke, Brücken, Treibstoffdepots, Postämter, Metrostationen sowie Monumente und die wichtigsten Fabrikationsstätten in Paris zu sprengen – also die gesamte Infrastruktur der Weltmetropole. Selbst unverdämmt hätte die Zündung der Torpedos eine verheerende Wirkung erzielt.
Es heißt auch, er sei mehrfach von alliierter Seite ausdrücklich gewarnt worden, dass er nicht nur als Kriegsgefangener behandelt werden würde, sondern als Kriegsverbrecher, wenn er Hitlers Befehle ausführte. Ebenso soll ihn das Plädoyer des Pariser Oberbürgermeisters beeindruckt haben und in ihm womöglich den Impuls geweckt haben aus der Gelegenheit als „Retter von Paris“ hervorzugehen.
Auch als ihn die Autoren des Bestsellers „Brennt Paris?“, Dominique Lapierre und Larry Collins, vor seinem Tod zu den Vorkommnissen befragen, sind seine Antworten so wenig eindeutig wie seine Handlungen während der Augusttage 1944.
Vielleicht war aber auch Choltitzs Abneigung gegenüber Hitler und seinen Schergen der Beweggrund für seine Entscheidung. Diese geht aus mehreren Artikeln, Dokumenten und Aussagen seiner Stabsoffiziere hervor. Ebenso betont Dimo von Choltitz, dass sein Vater niemals Nationalsozialist gewesen war und sowohl Hitler als auch die Nazis hasste.
Im April 1947 wird Choltitz aus der US-amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen und bleibt bis zu seinem Tod in Baden-Baden Lichtenthal. Er stirbt am 5. November 1966 und wird in Anwesenheit hoher deutscher Offiziere sowie hoher französischer Offiziere auf dem Hauptfriedhof Baden-Baden beigesetzt.